Mittwoch, 15. Dezember 2010

Alltagssyndrom

Ich sitze in der U-Bahn, blicke mich um und friere, wegen der immer wieder hereingetragenen Winterkälte – naßkalt ist es, und das ist schlimmer als die knackige trockene Eiseskälte, welche wir an anderen Tagen vom Ostwind aus Sibirien eingeflogen bekommen haben. In regelmäßigen Abständen drücke ich die Handschuhe fester an die Hände darin, als ob dies mein Frösteln verringern würde. Jedoch ist diese Handlung nichts weiter, als ein Ausdruck einfachen Wunschdenkens.
Ich schaue mich ein weiteres Mal um, die Bahn hält, Leute steigen aus, wieder andere steigen ein und tragen unsichtbare Wolken winterlicher Kälte wie an Leinen gezogene Haustiere hinein.
Mir gegenüber sitzt ein Mann mittleren Alters und liest mit augenscheinlicher Begeisterung einen dieser modernen Kriminalromane, mit welchen ich ja nun beileibe und wahrlich gar nichts anzufangen weiß. Daneben sitzt ein weiterer Mann und schaut ins Leere; ebenso die junge Frau links von mir. Mein Blick schweift weiter und meine Gedanken driften ab. Hinter jedem dieser Gesichter verbirgt sich ein Leben, eine oder ein Haufen an Geschichten und Erzählungen – von der Arbeit, der Party letzte Nacht, dem Mädchen das noch in dem Bett liegt, das so mancher zu dieser frühen Morgenstunde schon längst hinter sich gelassen hatte. Hinter anderen steckt nichts, kein Leben, keine Hoffnung, keine Wahrheit, geschweige denn eine Lüge. Leere Hüllen im täglichen Grau zwischen Tag und Nacht. Unsichtbar für die meisten ...
Abrupt werde ich aus den Überlegungen gezerrt. Aus der Sprechanlage ertönt die Bandaufnahme einer Frauenstimme, die die nächste Station ansagt. Hier muß ich raus. Ich stehe auf, gehe zur Tür und drücke bei Stillstand den Knopf zum öffnen. Mit seiner ganzen Gewalt an Kälte und Minustemperaturen schlägt der Winter mir gnadenlos ins Gesicht, läßt mich erzittern, als ich aussteige.
Nun ein Stück laufen. Der nächste Bahnhof ist nicht weit. Um Zeit zu sparen gehe ich quer über die Kreuzung und blicke mich nicht einmal um, ob vielleicht ein Auto angebraust kommt. Es ist mir eigentlich auch egal. Vor der Brücke biege ich rechts in die Seitengasse, dann links die Treppe hinunter und schon stehe ich am Bahnsteig. Ein eiskalter Wind bläst hier, wie durch einen Kanal. Ich suche also in einem der Häuschen Unterschlupf und drehe mir eine Zigarette, die ich anschließend in größter Eile aufrauche um schnellstmöglich wieder meine Handschuhe anziehen zu können. Ein Güterzug schießt mit hoher Geschwindigkeit vorbei und die Luft, welche er transportiert, fühlt sich an wie Rasierklingen im Gesicht. Ich werfe die Kippe fort und schlüpfe von links nach rechts laufend in die Handschuhe.
Dann kommt die S-Bahn. Die Türen öffnen sich. Für die letzten fünf Minuten meiner allmorgendlichen Reise drücke ich mich zwischen die dosenfleischartige Menschenmasse und versuche noch etwas Wärme zu tanken.

2 Kommentare:

  1. Schöner Text! Und gruseligerweise kommt mir das sehr bekannt vor...
    Du drückst das aus, was ich auch oft empfinde. Grundsätzlich wirken die meisten Menschen oberflächlich auf uns - und genauso oberflächlich betrachten wir sie oft. Aber letztendlich kann man gar nicht wissen, was die Menschen um uns erlebt haben, was sie empfinden. Hinter jedem Gesicht könnte sich eine Lebensgeschichte verstecken, genau wie du gesagt hast.

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  2. Aber in FFM ist der geilnahmslose Gesichtsausdruck deutlich häufiger an zu treffen, s in anderen Regionen....
    Die wollen verschmodderten S-Bahnen der S8 und S9 passen da irgendwie dazu...

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