Montag, 21. Juni 2010

Voll an die Wand

Ich - Etwa fünfzehn Meter - Dann die Wand. Dazwischen Luft über Erde. Ich renne los. Grabe meine rechte Fußspitze in den etwas sandigen, aber festen Erdboden und stoße mich ab. Schwebe kurz, dann holt die Schwerkraft mich ein, die linke Fußspitze berührt den Boden, ich verwandele meinen Schwung in einen neuen, wieder nur Sekundenbruchteile andauernden Flug. Wieder der rechte Fuß auf dem Boden, wirbelt etwas Staub auf. Links von mir singt ein Vogel. Eigentlich ist das kein Gesang, sondern ein Schreien, aber man nennt es eben so. Drei Sprintschritte weiter ein kleiner Stein auf dem Boden. Mein nackter linker Fuß erwischt ihn nur halb, er fliegt nach hinten weg. Gleichgewicht kurz gestört, sofort von biologischen Automatismen wiederhergestellt. Noch acht Schritte plus knapp zwei Meter Flugstrecke bis zur Wand. Rechter Fuß noch wenige Millimeter über dem Boden, ein anderer Vogel landet etwa auf halber Strecke zwischen mir und der Betonwand im Sand und pickt ein Insekt aus der Erde. Flug, linker Fuß vorne, auf das Auftreffen auf den harten Boden vorbereitet, der Vogel breitet die Flügel aus und flattert davon. Die aus seinem schwarzen Kleid gefallene Feder berührt den Boden gleichzeitig mit meinem rechten Fuß. Fünf weitere Schritte, etwa eine Sekunde. Zeit, den Körper aufzurichten. Die Sonne wird plötzlich von einer dicken Wolke verdeckt, meine Pupillen weiten sich. Wollen sich an das schwächere Licht anpassen. Absprung, etwa eine Zehntelsekunde Flug, dann die Wand.

So richtig arschfickmäßig ins Abstellgleis

Vor langer Zeit sagte mal irgendjemand zu mir: "Wenn du dein Leben so richtig arschfickmäßig ins Abstellgleis rasen lassen willst, dann besorg dir einfach ein bisschen Heroin und 'ne Spritze, der Rest passiert von allein..." Ob die Worte tatsächlich genau diese waren, kann ich nicht sagen, einzig die Grundaussage und die Formulierung "arschfickmäßig ins Abstellgleis" wurden noch nicht von der braunen Knusperhexe in meinem Lebkuchenkopf verbrannt. Der Name dieses so merkwürdig der Welt entrückt wirkenden Individuums, das mir, meine jugendliche Schwäche ausnutzend, einen diabolischen Ratschlag gab, ist mir irgendwo auf dem Weg verlorengegangen, ebenso wie sein Gesicht, deshalb male ich ihn so wie ich ihn mir vorstelle an die Außenwände der U-Bahn auf dem Abstellgleis; ein Dämon, getarnt als gute Fee, und nur der Ziegenhuf und die winzigen Hörner auf der Stirn verraten ihn. "Ein Kind kennt doch keine Dämonen..." Ein Schriftzug, den ich bereits in vielen Nächten im Rausch und kurz vor dem wohligen Einschlafen auf dem Schotter auf Züge geschmiert habe, stets neben eine Dämonen-Fee.

Vor nicht ganz so langer Zeit sagte mal irgendjemand zu mir: "Ich liebe dich." Aber ich war so sehr mit meinem Rausch beschäftigt, dass ich den Namen dieser Person schon lange vergessen habe. Auch hier kein Gesicht vor meinem inneren Auge, ich weiß nur dass sie weinte, aber ich schätze diese Frau könnte jetzt weinend vor mir sitzen und ich würde sie nicht erkennen. Also male ich sie so, wie ich sie mir vorstelle, wunderschön, mit einer Träne auf der Wange und leicht verlaufener Schminke. Darunter die Worte: "Ich liebe dich auch."

Gerade jetzt sitze ich im Schneidersitz neben dem Abstellgleis. Scheiße, ich war jung, unerfahren, ein bisschen dumm wohl auch. Aber vor allem verzweifelt. Die Verzweiflung verflog mit dem ersten Schuss. Aber jetzt gibt es keine Steigerung mehr für das was ich fühle. Es ist nicht mehr der feste Knoten in der Brust, nicht mehr der stechende Schmerz oder das dumpfe Taubheitsgefühl, es ist etwas, das Worte nicht mehr beschreiben können. So sitze ich hier also, die golden angemalte Spritze neben mir und sehe das Licht aus der Ferne auf mich zukommen. Ein Zug? Falls ja, dann rast er so richtig arschfickmäßig in mein Abstellgleis.

Sonntag, 20. Juni 2010

[Kein Titel]

Ein Fuß vor den anderen. Immer und immer wieder. Stumpfsinnig, monoton, irgendwie hypnotisierend wirkt die ständig gleiche Bewegung, die mich Meter um Meter von etwas weg, auf etwas anderes zu und an so vielen Dingen vorbeiträgt wie eine Windböe, die übers Land gleitet und nichts hinterlässt als eine kurze, selbstverständlich wirkende Bewegung von Blättern und Gräsern. Dutzende wahllos eingesammelte Gegenstände klappern und klimpern und rascheln mit jeder Gewichtsverlagerung in den Taschen an meiner Kleidung. Das Geräusch meiner Stiefel auf Kies, Sand, Gras, Laub oder Asphalt begleitet meine Seele auf ihrer irgendwie endlos scheinenden Reise, genau wie das gleichförmige, geräuschlose Summen in den Muskeln oder das an- und abschwellende weiße Rauschen, das das Blut in meinen Ohren erzeugt oder das sanfte Pochen in den leicht angewinkelt herabhängenden Fingerspitzen. Gedanken treiben in dem grauen Meer hinter meinen Augen, werden von der Flut als Strandgut an mein Bewusstsein angespült und von der Ebbe wieder davongetragen um Stunden später an einer anderen Küste wieder aufzutauchen und zu verschwinden, in einem ewigen Kreislauf gefangen, als mentale Projektion der Fleischmaschine, die so unermüdlich ihren Weg geht...

Montag, 14. Juni 2010

Monday, fucking Monday

Ja scheiße, man.
Da sitze ich hier in meiner gottverfickten Bude und neben mir sitzt tracs.
Was zur Hölle tut er hier?
Eigentlich wollte ich in dieser verdammten Situation komplett für mich allein sein.
Depressionen ausbaden.
Flennen.
Mich eiskalt selbst bemitleiden.
Aber er sitzt da, trinkt sein Beck's und schaut mich an.
Wie ich da sitze mit meinen verheulten Augen, der laufenden Nase und den schwarzen Gedanken.
"Ich will sterben, man."
"Fick' dich, nimm dir ein Bier und halt deine verfickte Fresse."
"Aber ich liebe sie doch."
"Scheiß drauf, du hast sie nie geliebt und wirst sie nie lieben."
Ich ziehe mir eine Nase voll Rotz zurück in meine Hirnrinde und öffne zünde mir eine Zigarette an.
"Vielleicht hast du recht, ich sollte sie vergessen."
"As i said, man."
"Na aber ich meine schau' mal wie lange ich mit der Tuss zusammen war. Da bauen sich doch schon Emotionen oder so n Scheiß auf."
"Ja. Sowieso."
"Also isses okay, dass ich so scheiße drauf bin?"
"Naja nee. Kopf hoch, Schwanz raus."
Ich nehme mir noch ein Bier, rotze eine Ladung grüne Nasenscheiße ins Taschentuch und öffne es mit meinen Zähnen, während ich mir meinen Backenzahn teilweise abbreche.
"Und was soll ich da jetzt machen, tracs?"
"Lass uns mal irgendwo feiern gehn."
Ich ziehe den Ärmel meines schwarzen Wollpullis vom Ellenbogen bis zum Handgelenk über meine Nase und lasse eine Spur zurück, wie man sie sonst nur von Schnecken kennt.
"Hm. Okay, halt."

Sonntag, 13. Juni 2010

Sleep.Mode XV - Das Sleep.Mode-Syndrom

Früher war es für mich immer ein tolles Gefühl wenn ich unter der Dachschräge meines Zimmers lag und den Regentropfen zuhörte, wie sie auf die Scheibe prasselten. Als um etwa 2:00 Uhr nachts dieses gleichmäßige Schlagen der Tropfen einsetzte und Josie sich neben mir im Schlafsack ein bisschen bewegte, ihren Körper ein meinem striff und tief ausatmete, hatte ich für einen Moment diesen gesamten Scheiß vergessen.

Ich liege hinter ihr, mein linker Arm auf ihren Bauch gelegt und der rechte Arm weiß nicht wirklich, was er tun soll. Ich sah es schon immer als eine der bedeutenderen Fragen des Alltags an, was man denn mit dem anderen Arm macht. Wenn man ihn unter die Frau legt, ist das unbequem für sie und der Arm schläft irgendwann ein. Wenn man ihn über den Kopf nach oben legt oder unter sich selbst ist es das gleiche Spiel. Ich drehe mich von ihr weg und ziehe eine Kippe aus der Brusttasche meines Hemdes. Die Taschenuhr zeigt 2:47 Uhr. Mit etwa 3 Stunden Schlaf war ich eigentlich besser dabei, als die letzten Tage, zumal er erholsamer war, als zu den Zeiten auf dem ersten Dachboden. Ich richte mich auf und zünde die Zigarette an. Es regnet immer noch wie verrückt und die Luft auf dem Dachboden kühlt allmählich ab. Der muffige Geruch von nassem, alten Holz und staubigen Schulmaterial füllt diesen langgezogenen Raum vollkommen aus. Übermorgen finden wir Zoe. Ganz sicher.

Ich höre Schritte auf dem Dach und hole leise meine Waffe aus meinem Rucksack. Technisch gesehen müssten noch fünf Schuss in der Walther sein. Als ich noch einmal hinab auf Josie schaue, sehe ich, wie sie bereits mit offenen Augen und entsicherter Waffe in der Hand da liegt und mich ansieht. „Kopfschuss ist nicht notwendig, aber am sichersten.“, flüstert sie zu mir und ich nicke. Wir schleichen beide vor das Fenster und warten auf ein Gesicht. Hoffend, dass es noch normal ist. Die Schritte sind ungleichmäßig. Entweder ist es einer dieser Wahnsinnigen oder ein Mensch, der sich die Füße gestaucht oder gebrochen hat. Letzteres ist zu unwahrscheinlich, das wissen wir beide. Die Regentropfen fallen noch immer in ihrer unregelmäßigen Regelmäßigkeit auf die Fensterscheibe und die Sterne scheinen durch das Wasser verschluckt worden zu sein. Ich atme langsam. Josie irgendwie gar nicht. Ich höre kein Geräusch von ihr. Wir haben keine Angst, so viel ist sicher. Doch jede dieser Aktionen kann nur noch mehr Irre anlocken. Es ist sowieso nicht logisch, warum unter uns keine mehr von diesen Scheißviechern sind. David meinte damals, dass sie ewig ausharren können, insofern sie keine andere Fährte aufnehmen. Irgendetwas muss die unter uns abgelenkt haben. Ich weiß nicht, ob Josie in diesem Moment das gleiche denkt, ob ihr Kopf frei ist oder ob sie komplett andere Gedanken gerade hat.
„Woran denkst du gerade?“
„Dass ich früher nie bei Regen unter einer Dachschräge schlafen konnte, weil ich nicht wusste, was da auf dem Dach ist, weil man durch den Regen keine anderen Geräusche mitbekommt. Jetzt, wo ich weiß, dass da oben ein Sickman ist, gibt mir das eine eigenartige Ruhe.“
„Du nennst sie Sickman?“
„Jop. Finix, der Typ aus Ohio nannte die immer so. Also in Amerika sind die Sickmen auch schon am Zivilisation ausrotten.“
Meine Waffe fällt mir fast aus der Hand, als sie von anderen Menschen spricht. Wie viele sind es noch? Hoffentlich genug, um wieder eine kleine Stadt oder so etwas gründen zu können.
„Wo hast du mit ihm gesprochen?“
„ICQ. Wir haben früher schon Kontakt durch so ein Online-Rollenspiel gehabt. Als ich noch in Tempelhof war schrieb er mir, dass er sich in seinem Farmhaus mit seinem Laptop verschanzt hat. Bis sein Akku aufgab, war er durchgängig online. Dann kam kein Lebenszeichen von ihm. Zwei Tage später fing es bei uns in Deutschland dann auch damit an.“

Ich erinnere mich an die Zeit. Die Bild-Zeitung war voll mit den Nachrichten über diese Seuche. Sie nannten sie Sleep.Mode. Ein Pressesprecher von einem Labor in Ohio gab dem Wahnsinn diesen Namen. Er meinte, dass die Menschen wie Schlafwandler sind. Nur eben aggressiv. Sie wissen einfach nicht mehr was sie tun. Einen Tag später stand in allen deutschen Zeitungen, dass in Frankfurt der erste Wahnsinnige gesichtet und zu Testzwecken eingesperrt wurde. Dann hörte man nichts mehr. Die letzten Ausgaben vom 19.04.2007 liegen noch immer in allen Tankstellen, Supermärkten und Hotels.

Der Regen hört auf, die Schritte nicht.
Wir wissen, dass jemand da oben ist. Und der Jemand da oben sicher auch, dass wir hier unten sind. Er lauert. Wartet. Jenseits und Diesseits des Dachbodenfensters ist man auf die Kollision vorbereitet. Wie in Trance gebe ich Josie einen Kuss auf die Wange und klopfe gegen das Fenster.

Donnerstag, 10. Juni 2010

Sleep.Mode XIV - Date

„Weiß ich nicht.“, flüstere ich in Josies Ohr.
„Ich hatte so eine stinknormale Kindheit in der Mittelschicht. Intakte, liebevolle Familie, bla. Mein Fachabitur gemacht und dann ein BA-Studium bei der Deutschen Bank angefangen. Ich meine, ich war echt gut in diesem Zahlenmist. Aber im Grunde genommen hab ich das alles dort gehasst. Ich wollte irgendwie da raus. Nun bin ich das ja eigentlich. Doch ich weiß nicht so recht, ob es das ist, was ich mir vorgestellt habe.“
„Hast du 'ne Freundin?“
„Ich glaube sie ist auch schon wahnsinnig geworden. Sie wohnte in Thüringen, da wo ich ursprünglich her komme.“
„Merkt man.“
Ich reiße mich aus meiner Erzählerapathie und schaue Josie verdutzt an.
„Wie meinst'n das jetzt?“
„Na dass du aus Thüringen kommst, das merkt man. Deine Stimme eben. Wenn wir Wörter mit 'er' beenden, hört sich das bei dir irgendwie wie 'or' an. Es klingt ein wenig sächselnd.“
„Na super.“
„Supor.“ antwortet sie und ich sehe sie zum ersten mal lächeln. Für eine Millisekunde bekomme ich so etwas wie Gänsehaut.
„Du bist doof.“
Ich hätte nicht gedacht, dass man in so finsteren Zeiten doch noch eine Person findet, mit der das alles erträglich wird. Würde man nicht die ganze Zeit die schreiende, stöhnende Meute ein Stockwerk unter sich hören, weil man mit seinen Gesprächen mindestens hundert von den Irren angelockt hätte, dann könnte man die Situation fast schon als Date zählen. Die Taschenuhr zeigt 22:31 Uhr. Es ist noch ewig hin, bis die Sonne wieder aufgeht.
„Also, wie verfahren wir jetzt weiter, Mr. Banker?“
„Keine Ahnung. Ich gehe nicht davon aus, dass es irgendwo einen freien Bereich gibt. Wir müssen uns einfach auf die Suche nach anderen machen und so einen Bereich erst einmal herstellen.“
„So etwas, wie ein Schloss?“
„Kann man so sagen, ja. Am besten irgend ein Haus mit hohen Mauern und Solarpanels auf dem Dach. Falls irgendwann der Strom abgestellt wird, haben wir ein Problem.“
„Ich möchte nicht weiter in der Schule hier abhängen. Ich muss dringend auf die Toilette und Duschen wäre auch mal nicht schlecht.“
Duschen ist eine gute Idee. Ich versichere ihr, dass wir morgen einen Wellness-Tag machen und sie lächelt erneut. Dann legen wir uns zusammen in meinen Schlafsack und versuchen die Nacht schlafend zu überleben.

Dienstag, 8. Juni 2010

Untitled 003

Zurück zum Ursprung des Gedanken
leitet mich die leere Umhüllung meines Ichs.
Allein gelassen sitzt die kleine - meine - Seele
auf einem viel zu großen Stuhl.

Trauer wiegt schwer,
wie des Dæmons kalte Hand
mein Herz zerreißt.

Tiefer Schmerz in meiner Brust.
Atme!
Niemand da!
Ich blicke mich um.
Nur graue Gestalten watscheln durch den Nebel.
Niemand sieht mich an.
Niemand hört mein Klagen.

Meinem Herzen,
zerfetzt und zerrissen
zu gleichen Teilen in
Haß,
Wut,
Liebe
und
Schmerz,
sehnt es nach Einigung.

Sonne brich durch den Nebel.
Laß mich sehen ...
Laß mich lieben ...

Untitled 002

Die logarhytmisch strukturierte Glasfassade,
kalt und starr, glasig und ausdruckslos blickt sie,
wie mit den Augen einer Puppe,
nieder auf den Protagonisten.
Sie sehen nichts und doch zugleich
mehr als er je ahnen wird.
In nebliger Ermüdung
strapaziert er sich.
Dehydrierte Scene eines Ozeans
nannte der Dichter die Begebenheit
- und doch hat es nichts damit zu tun.
Der Protagonist streift die Blicke ab
und er freut sich seiner Freiheit.

Von der alltäglichen Qual

Welch unauslöschliche Qual;
Sich windend und labend
Kriecht sie durch meine Psyche und Physis,
Frißt mein Fleisch und trinkt mein Blut.

Daß ich leide, ist der Qual Lebenssaft.
Daß ich lache, ist nur Ironie!
Grund dessen ich mich darnieder lege,
Leid genieße und weiter lebe.

Einsamkeit

Als nun dort wir saßen,
Gefangene unserer Gefühle
In einem Kerker aus Haß und Liebe.
Von einer Wand zur nächsten
Gehe ich auf und ab,
Ab und zu im Kreis.

Kampf der Seelen,
Krieg der Geister
Nannte ich es
- doch nichts von dem
Kam dem gleich
Was ich erlebte.
Und wieder endete es im Kreis.

Ich schließe sie nun in meine Arme,
Meine Gefühle übermannen mich.
Und wieder sterbe ich
Ein weiteres sinnloses Mal.
Tot und leben;
Ein Kreis ohne Ausgang;
Eine Straße ohne Abzweig.

Mittwoch, 2. Juni 2010

Sleep.Mode XIII - Anbei: Chaos

„Hast du Familie? Also ich meine leben die noch?“
Wir saßen wieder auf dem Dachboden der Schule, denn die Sonne war bereits untergegangen. Hier oben waren wir sicher.
„Meine Stiefvater habe ich mit einer Metallskulptur den Kopf zerdroschen, nachdem er meiner Mutter den Hals aufgebissen hat. Mein Bruder ist aus dem Fenster gesprungen und wollte flüchten, wurde allerdings von einem weinroten VW Polo erwischt. Die haben sich nicht einmal darum geschert, dass sie gerade einen elfjährigen Jungen überfahren haben.“
Während sie mit mir spricht, sichert und entsichert sie wie apathisch ihre Walther PPK.
„Hast du die Knarre von einem Bullen abgezogen?“
„Der lag tot vor meiner Haustür, der hatte sicher nichts dagegen.“
Sie liegt mit ihrem Kopf auf meinem Schoß, schaut still gegen die Dachschräge. Sichern. Entsichern. Ich widerstehe der Versuchung ihren Kopf zu streicheln und stütze mich stattdessen mit beiden Händen auf den Boden ab. Klar bin ich froh, sie gefunden zu haben. Doch eine emotionale Bindung kann und darf ich nicht eingehen. Sie kann jederzeit ebenso verrückt werden oder von diesen Monstern getötet werden. Mit noch mehr extremen Verlusten könnte ich nicht mehr klarkommen. Ich denke wieder an Zoe. Vielleicht lebt sie auch noch.
„Kennst du Zoe?“
„Wen?“
„Zoe. Die wohnt vielleicht zwei Kilometer von der Schule hier entfernt.“
„Nee. Ich wohne in Berlin Tempelhof.“
„Achso.“
Sie atmet tief ein und hält lange die Luft an.
„Wohnte.“
„Hm?“
„Ich wohnte in Berlin Tempelhof. Jetzt bin ich Nomade oder wie man so etwas nennt.“
„Wir werden schon irgendwann wieder ein geregeltes Leben haben. So wie vorher.“
„Wie vorher ist scheiße.“, sagt Josie.
Ich nehme einen ihrer Dreads in die Hand und schaue in mir an. Er sieht noch recht neu gefilzt aus, die einzelnen, raushängenden Strähnen wurden fein säuberlich, wahrscheinlich mit einer Häkelnadel, wieder in den Dread eingearbeitet. Ich frage mich kurz, wie sie in dieser Welt Zeit dafür finden kann und lasse ihn wieder fallen.
„Was war denn an vorher scheiße?“
Sie dreht ihren Kopf so, dass sie mir in die Augen schauen kann. Noch immer bin ich verblüfft, welche Helligkeit ihre Augen ausstrahlen. Als würde man in ihrem Augenpaar zwei Sonnen gelegt haben.
„Ach der typische Kram, der eine Siebzehnjährige beschäftigt. Der Freund ist ein asozialer Hiphopper, der einen andauernd betrügt, die Eltern scheren sich einen Dreck und die Schule läuft mies. Hab' bevor das los ging mit meiner Seminarfacharbeit angefangen. Sie hieß 'Deutsche Kultur – Wie sie uns in der Vergangenheit und in der Gegenwart bewegt.' Scheiß Thema.“
„Nunja, eventuell wird genau diese Facharbeit so etwas, wie ein Weltenerbe.“
„Wieso sollte es das? Es ist nichts verbrannt, alle Bücher dieser Erde sind noch im komplett guten Zustand.“
„Ja schon, aber irgendwann muss doch auch mal etwas neues kommen. Wenn sich alles irgendwann wieder einkalkulieren sollte, dann gibt es nur noch eine handvoll Menschen, die die gesamte Gesellschaft wieder aufarbeiten muss.“
„Meinst du, dass die das packen? Also wir?“
Ich fahre mit meinem Zeigefinger sanft über ihre Stirn und sie schließt für einen Moment die Augen.
„Weiß ich nicht. Vielleicht wird auch alles im Chaos bleiben.“
„Wie war's bei dir?“
Ich halte inne. Meine Hand ruht auf ihrem Kopf und mein Blick tut nichts anderes, als seine Kraft ins nirgendwo zu verstreuen.