Mittwoch, 2. Juni 2010

Sleep.Mode XIII - Anbei: Chaos

„Hast du Familie? Also ich meine leben die noch?“
Wir saßen wieder auf dem Dachboden der Schule, denn die Sonne war bereits untergegangen. Hier oben waren wir sicher.
„Meine Stiefvater habe ich mit einer Metallskulptur den Kopf zerdroschen, nachdem er meiner Mutter den Hals aufgebissen hat. Mein Bruder ist aus dem Fenster gesprungen und wollte flüchten, wurde allerdings von einem weinroten VW Polo erwischt. Die haben sich nicht einmal darum geschert, dass sie gerade einen elfjährigen Jungen überfahren haben.“
Während sie mit mir spricht, sichert und entsichert sie wie apathisch ihre Walther PPK.
„Hast du die Knarre von einem Bullen abgezogen?“
„Der lag tot vor meiner Haustür, der hatte sicher nichts dagegen.“
Sie liegt mit ihrem Kopf auf meinem Schoß, schaut still gegen die Dachschräge. Sichern. Entsichern. Ich widerstehe der Versuchung ihren Kopf zu streicheln und stütze mich stattdessen mit beiden Händen auf den Boden ab. Klar bin ich froh, sie gefunden zu haben. Doch eine emotionale Bindung kann und darf ich nicht eingehen. Sie kann jederzeit ebenso verrückt werden oder von diesen Monstern getötet werden. Mit noch mehr extremen Verlusten könnte ich nicht mehr klarkommen. Ich denke wieder an Zoe. Vielleicht lebt sie auch noch.
„Kennst du Zoe?“
„Wen?“
„Zoe. Die wohnt vielleicht zwei Kilometer von der Schule hier entfernt.“
„Nee. Ich wohne in Berlin Tempelhof.“
„Achso.“
Sie atmet tief ein und hält lange die Luft an.
„Wohnte.“
„Hm?“
„Ich wohnte in Berlin Tempelhof. Jetzt bin ich Nomade oder wie man so etwas nennt.“
„Wir werden schon irgendwann wieder ein geregeltes Leben haben. So wie vorher.“
„Wie vorher ist scheiße.“, sagt Josie.
Ich nehme einen ihrer Dreads in die Hand und schaue in mir an. Er sieht noch recht neu gefilzt aus, die einzelnen, raushängenden Strähnen wurden fein säuberlich, wahrscheinlich mit einer Häkelnadel, wieder in den Dread eingearbeitet. Ich frage mich kurz, wie sie in dieser Welt Zeit dafür finden kann und lasse ihn wieder fallen.
„Was war denn an vorher scheiße?“
Sie dreht ihren Kopf so, dass sie mir in die Augen schauen kann. Noch immer bin ich verblüfft, welche Helligkeit ihre Augen ausstrahlen. Als würde man in ihrem Augenpaar zwei Sonnen gelegt haben.
„Ach der typische Kram, der eine Siebzehnjährige beschäftigt. Der Freund ist ein asozialer Hiphopper, der einen andauernd betrügt, die Eltern scheren sich einen Dreck und die Schule läuft mies. Hab' bevor das los ging mit meiner Seminarfacharbeit angefangen. Sie hieß 'Deutsche Kultur – Wie sie uns in der Vergangenheit und in der Gegenwart bewegt.' Scheiß Thema.“
„Nunja, eventuell wird genau diese Facharbeit so etwas, wie ein Weltenerbe.“
„Wieso sollte es das? Es ist nichts verbrannt, alle Bücher dieser Erde sind noch im komplett guten Zustand.“
„Ja schon, aber irgendwann muss doch auch mal etwas neues kommen. Wenn sich alles irgendwann wieder einkalkulieren sollte, dann gibt es nur noch eine handvoll Menschen, die die gesamte Gesellschaft wieder aufarbeiten muss.“
„Meinst du, dass die das packen? Also wir?“
Ich fahre mit meinem Zeigefinger sanft über ihre Stirn und sie schließt für einen Moment die Augen.
„Weiß ich nicht. Vielleicht wird auch alles im Chaos bleiben.“
„Wie war's bei dir?“
Ich halte inne. Meine Hand ruht auf ihrem Kopf und mein Blick tut nichts anderes, als seine Kraft ins nirgendwo zu verstreuen.

3 Kommentare:

  1. mal wieder wundergeil geschrieben. ich liebe die art, wie du dialoge und zwischenmenschliche beziehungen rüberbringst.

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  2. Auf jeden Fall, kann ich mich den Meinunge meiner Vorkommentatoren nur anschließen. Es ist echt toll geschrieben und das Zwischen menschliche hast du auch toll dargestellt. Mach echt weiter so.
    Und ahja, ich hab mal alles auf Blogstandard formatiert ;-)

    Beste Grüße und Wünsche,
    Herr /root

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