Montag, 14. November 2011

Tiefenpeeling III

Häuser ziehen am Fenster vorbei. Das Grau des Himmels wird löchrig und einzelne blaue Flecken mit rissigen Rändern tun sich auf. Dann Spüre ich die Schräglage der Gleise und durch das Fenster hinaus beobachte ich, daß unser Zug sich unter die Oberfläche wühlt, wie ein riesengroßer Regenwurm. Schwarze Finsternis umgibt uns für wenige Sekunden bevor die Innenbeleuchtung der Bahn anspringt. In der Fensterscheibe sehe ich nun Sveta, wie sie sich umsieht, versucht unbemerkt Leute zu beobachten. Immer wieder sehe ich, wie sie sich dabei ertappt, jemanden zu lange und zu direkt anzusehen.
Ich beuge mich zu meinem Rucksack hinab und wühle darin. Eigentlich suche ich nichts bestimmtes, gebe nur vor etwas finden zu wollen. Dabei mustere ich dieses Mädchen. Ich stelle fest, daß sie noch etwas unbeholfen ist. Wahrscheinlich ist sie nicht von hier, lebt noch nicht lange in der Stadt. Während sie den Linienplan begutachtet, wirkt sie verloren, als wüßte sie nicht wo sie ist. Sie studiert ihn viel zu lange. Ich fische zwei Bierdosen aus dem alten zerschlissenen Rucksack und reiche ihr eines. Etwas perplex hält sie es fest, während ich das meine öffne — zisch-klack.
„Woher kommst du?“ frage ich aus dem blauen heraus.
„Was meinst du?“ kommt eine Gegenfrage.
„Naja ich merke einfach, daß du noch nicht lange in Frankfurt lebst.“
„Ich bin aus Rostock.“ sagt sie dann. „Bin wegen dem Studium hier. Germanistik.“ Ein zuckersüßes lächeln umspielt ihren Mund. Jetzt kann ich auch ihren leichten Akzent einordnen.
Der Hauptbahnhof zieht vorbei, wird langsamer. Der Zug hält. Wieder strömen Massen herein und heraus. Tausend Gesichter in zwei Minuten. Keines bleibt lange im Blickfeld. Graue Götterkacke auf dem Weg ins Irgendwo.
Alles beruhigt sich wieder etwas bei der Abfahrt, aber wie immer gibt es noch den einen oder anderen Reisenden, der mit seinem viel zu vollgepackten Koffern versucht einen Platz für sein zersessenes Arschfleisch zu finden.
Ich beginne mir eine Zigarette zu drehen, da fällt mir ein, daß ich wenigstens ein kleines bisschen Gentleman sein sollte und frage Sveta: „Möchstes du auch eine haben?“
„Danke, aber ich hab.“ Sie lächelt.
An der nächsten Station verlassen wir den Zug und begeben uns an die Oberfläche um zu Rauchen. Ein paar dieser flacheren Häuser scheinen vor dem Hintergrund der Bankentürme das Stadtbild hier zu dominieren. Am Himmel ist immer mehr Blau zu sehen. Und ab und an treffen uns sogar ein paar Sonnenstrahlen. In der Nähe öffnet ein Dönerhaus. Zwei Leute tragen diese Kreidetafeln auf die Straße.
Dann schaue ich Sveta an. Ihr ist kalt, das sehe ich und lege meinen Arm um sie. Sie schaut zu mir auf und lächelt wieder so dermaßen bezaubernd.
„Wollen wir einen Çay trinken?“
„Gerne.“ Ihre Augen leuchten.

Wir sitzen wieder an der Station, aufgewärmt von türkischem Tee. Ich beobachte einen Mann der in unserer Nähe steht. Offensichtlich betrunken versucht er etwas aus seinen Taschen zu holen und stülpt sie sich dabei nach außen. Sveta wird ebenfalls auf ihn aufmerksam und kichert leise.
„Was ist denn mit dem?“ fragt sie.
„Voll, würde ich mal vermuten.“
„Oh.“
„Ja. Ich denke er wird sich betrunken haben. Danach war er sicher im Bahnhofsviertel und wie er aussieht hat er bestimmt keinen hochbekommen. Schau nur, wie unbeholfen er seine Fahrkarte sucht. Aber er wird sie gleich in seiner Geldbörse finden.“ — was er in diesem Moment auch tut — „Siehst du? Ein typischer Fall von zu viel am falschen Tag ist das.“
Sveta lacht. „Du bist witzig, Ben.“
Ein paar Momente später vernehmen wir auch schon das Geräusch eines einfahrenden Zuges.

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