Dienstag, 20. Juli 2010

Zum Ende der Welt

Obwohl die riesige Kralle des noch viel riesigeren adlerähnlichen Vogels nicht mehr quer über meiner Brust lag, fiel mir das Atmen noch immer schwer. Ich versuchte, mich auf die Seite zu drehen, wurde aber von einem stechenden Schmerz im Bereich der linken unteren Rippen daran gehindert und beließ es bei einem schmerzverzerrten Stöhnen. Der Vogel, eben noch wild entschlossen, seine Beute in Stücke zu reißen und zu verschlingen war jetzt mit etwas ganz anderem beschäftigt. Ein zweiter, mindestens ebenso riesiger Vogel war am nur von einigen rötlich schimmernden, blätterbehangenen Ästen verdeckten, leicht grünlich angehauchten, wolkenlosen Himmel aufgetaucht und forderte soeben seinen Rivalen zum Kampf um die Beute heraus. Wäre ich nicht der Preis für den Gewinner gewesen, hätte ich vermutlich noch länger wie gelähmt am Boden gelegen, absolut fasziniert von der Gewalt mit der die beiden Raubvögel immer wieder gegeneinander stießen, mit den Krallen nach dem Gegener schlagend und so laut mit den Schnäbeln klappernd, dass ich die Vibration der Geräusche sogar hier, mehrere Meter entfernt, durch den Boden und das meterhohe Gras um mich herum wahrnehmen konnte. Nach Sekunden, die sich für mich wie zähflüssige Stunden anfühlten, erlangte ich die Gewalt über meinen Körper zurück und zwang ihn, den stechenden Schmerz ignorierend, aufzustehen und davonzuhinken. Weit, weit weg von den zankenden Riesenvögeln, die mich mit einem einzigen Flügelschlag ins Jenseits befördern konnten. Hinter einer Baumreihe sah ich Licht, nicht rötlich wie das dieses Waldes, sondern blau, fast weiß. Ich lief darauf zu, stolperte über Grashalme, kletterte über riesenhafte Wurzeln, brach durch haushohes Brennesselgestrüpp, wohl wissend, dass ein einziger Stich mich für Stunden außer Gefecht setzen würde und schließlich erreichte ich den Waldrand. Er war genau so wie die Waldbewohner mit den spitzen Ohren und den drei bis sieben Armen ihn mir beschrieben hatten, stets mit einem Unterton mitleidigen Spotts, als seien sie fest überzeugt, dass ich ihn niemals zu Gesicht bekommen werde.
Und hier stand ich nun, am Rande des Waldes, und blickte auf eine wunderschöne Welt hinunter, nur wenige hundert Meter entfernt begann bereits die erste, herrlich weich wirkende Wiese. Weit in der Ferne thronten Schlösschen auf Hügeln und Burgen auf Felsen, hier und dort tollte ein Einhornpaar durch die Wiesen und Felder. Und ganz weit weg am Horizont konnte man schon das Ende der Welt sehen.
Da wollte ich hin, auch wenn ich ein Jahr und einen Tag brauchen würde. So vergingen die Tage, und nie wurden sie langweilig. Mal weckte mich ein seltsames, graublaufarbenes Tier mit langem, weichem Fell, aus dem mich nur eine lange Schnauze und ein Paar treuer saphirblauer Augen anlächelten, mal schlief ich zum Panflötenspiel eines weit entfernten Wanderers ein und träumte davon, auf einem dieser graublauen Wesen über die Welt zu fliegen.
Ich kam auf der Reise an vielen Schlössern, Burgen, Türmchen, Tempeln und Brunnen vorbei, ich lernte viele Wesen kennen, einige von ihnen konnten sprechen, andere konnten fliegen und wieder andere konnten nichts, sahen aber trotzdem schön aus. Irgendwann hörte ich auf, die Tage zu zählen und so war ich nicht wenig überrascht, als ich mich eines Morgens am Ende der Welt wiederfand.
Es war ein Ort, der sich durch nichts wirklich beschreiben lässt. Seine Schönheit trieb mir Freudentränen in die Augen und gleichzeitig schluchzte ich vor tiefster Trauer, dass an diesem Ort ALLES sein Ende fand. Im selben Moment empfand ich überhaupt nichts, oder hörte Pferde galoppieren oder schwere Maschinen stampfen und zischen. Ich hatte Angst, ertaubt zu sein, weil es so still war, es war so hell und so dunkel zugleich, dass ich mir verzweifelt die Augen rieb. Es war einfach das Ende der Welt, hinter mir die Welt und vor mir ein riesiges schwarzes Meer, gefüllt mit Sternen. Und so setzte ich mich einfach hin, streckte die müden Füße in das Meer und ließ mich auf die wunderbar weiche Wiese sinken...

2 Kommentare:

  1. Hui, das ist schön :) Gefällt mir sehr gut, ich kann mir das Geschehen richtig bildlich vorstellen! :) Die Geschichte hat so etwas Magisches und Träumendes an sich, das wirklich wunderbar beschrieben wurde :)

    - Storyteller

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  2. gefällt mir unglaublich gut.

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