Mittwoch, 26. Mai 2010

Sleep.Mode X - Der Fänger im Dach

Scheiße. Mein Nährstoffmangel macht sich sichtlich bemerkbar. Einen anderen Grund kann ich nicht dafür finden, dass sich eine fette Herpes-Blase in der Mitte meiner Unterlippe bildet. Außerdem verkrampfen sich meine Beine bei jeder Bewegung. Draußen ist es mittlerweile hell geworden. Ich habe maximal vier Stunden geschlafen. Der Fänger im Roggen liegt fertig gelesen am Fußende meines Schlafsacks. J.D. Salinger hat meiner Meinung nach seinen Protagonisten viel zu einfach dargestellt. Wenn ich dieser Typ gewesen wäre, hätte ich nicht so inflationär die Worte „das deprimiert mich“ in das Buch geschrieben. Das Brummen und Wimmern unter mir hat seit dem Sonnenaufgang abgenommen.
Hoffentlich sind diese Scheißviecher nicht unten in irgend einem Schatten und warten darauf mich anzugreifen. Nachdem ich meine ganzen Sachen wieder im Rucksack verstaut habe, ziehe ich die Luke des Dachbodens auf und lasse vorsichtig die Leiter herunter. Mit jedem Schritt nach unten wird mir mehr und mehr bewusst, dass ich nicht allein in diesem Gebäude bin. Die Leiter lasse ich an der offenen Dachluke stehen. Ich werde sowieso nicht zurück kommen. Ich glaube, man sollte bei solchen Szenarien so viel, wie möglich reisen. Vielleicht findet man noch andere Normale. Der Gang ist still, meine Schritte hallen vom Linoleum-Boden und den Wänden wider, als würde eine ganze Armee durch die Schule marschieren. An den Wänden hängen Schülerarbeiten. Bilder unter dem Thema „Mein Urlaub“ von der ersten Klasse schmücken die Pissgelbe Raufasertapete. Mittendrin ist ein Bild von einem Kind, welches mit seinen magersüchtigen Eltern mit Wasserkopf und drei fingern im Wald zu sein scheint. Junger Wald, denn die Bäume sind kleiner, als das Kind selbst. Genau so groß stehen deformierte, grüne Kegel zwischen Baum und Anorexia-Familie. Inmitten dessen eine große Sprechblase mit den Worten „ich habe fiele Pilse!“ Kaum zu glauben, dass man so etwas in den Flur der Schule zulässt. Im Biologieraum neben mir höre ich etwas vom Tisch fallen. Die Tür ist nicht zugeschlossen und angelehnt. Ich ziehe die P7 aus meiner Tasche, entsichere sie und gleite, so leise wie möglich durch den Türspalt. Überall liegt noch Schulmaterial, manches mit eingetrocknetem Blut beklebt. Auf dem Boden zerschmissene Gläser. Müssen wohl einst Exponate drin gewesen sein. Der Raum selbst ist leer. Ein Wahnsinniger würde bei dem Tageslicht ohnehin mehr Geräusche machen, immerhin sieht er ja nichts. Genau so, wie ich. Keine Bewegung im Zimmer. Ich verlasse es und mache mich auf den Weg in das Lehrerzimmer.

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