Sonntag, 30. Mai 2010

Sleep.Mode XII - Enteisung

„Kaffee?“
Sie zuckt zusammen, als die Worte meine Stimmbänder verlassen und für einen Moment denke ich, dass sie mich erschießen will. Sie antwortet nicht, sondern schaut mich immer noch wortlos mit ihren stahlblauen Augen an. Ich sichere die Waffe und nehme sie runter. So verweilen wir etwa zwei Minuten, ihre Pistole noch immer auf meine Stirn gerichtet. Sie schweigt weiter.
„Hör zu“, sage ich: „ich will dir nichts tun, ich bin nur sehr verblüfft einen normalen Menschen hier vorzufinden.“
Langsam sinkt ihre Waffe nach unten und Tränen bilden sich in ihren Augen. Ich drehe mich kurz um und nehme mir den Kaffee. Schwarz, ohne Zucker, und gebe ihn ihr. Sie nimmt ihn, immer noch wortlos und schaut ihn zitternd an. Irgendwie tut mir die Kleine leid. Endlich kann ich sie im ganzen anschauen. Sie ist schätzungsweise siebzehn Jahre alt, hat einen schwarzen Ring auf der linken Seite ihrer Unterlippe. Ihr Mund ist schmal, sieht dennoch weich aus. Ihr Körper ist, trotzdem sie klein ist, recht dünn und sieht sehr zerbrechlich aus. Sie trägt ein schwarzes T-Shirt mit der Aufschrift Mera Luna 2006, einen schwarz-weiß karierten Rock, darunter eine Netzstrumpfhose mit scheinbar mutwillig zugefügten Löchern und ein Paar schwarze, etwa 14-Loch Springerstiefel.
„Wann hast du das letzte mal etwas gegessen? Soll ich dir etwas von mir geben? Vielleicht bist du ja nicht so der Schinken-Typ, aber ansonsten kann ich dir gerade nichts anderes anbieten.“
Jetzt fängt sie wirklich an zu weinen und drückt sich an mich dran, umarmt mich und ich merke, wie sie ein wenig zuckt, wenn sie einatmet. Wenn Menschen weinen, dann zucken sie immer beim Atmen. Ich vergesse immer wieder, wie das bezeichnende Wort dafür ist. Ich streiche durch ihr Haar und drücke sie noch fester an mich. Ich bin wahrscheinlich genau so froh wie sie, einen Menschen zu sehen, der noch nicht dem Wahnsinn verfallen ist. Es tut so gut, eine Umarmung zu spüren. Ich bekomme selbst weiche Knie und muss aufpassen, dass ich nicht auch anfange zu flennen. Ich muss der starke Part sein, sie klammert sich an mich. Ich sollte eigentlich so etwas wie Vatergefühle oder entwickeln, denke ich mir. Doch irgendwie bleibt es aus.

Als sie sich wieder von mir loseist und mit ihrem the Cure-Schweißband ihre Tränen vom Gesicht wischt, merke ich, dass sie mir den ganzen Kaffee auf den Rücken gekippt hat. Ich drehe mich um und mache zwei weitere Becher. „Wie heißt du?“, frage ich.
„Sind unsere Namen nicht mittlerweile unbedeutend?“
Ihre Stimme ist sanft und dennoch fraulich.
„Ja, aber mit irgendwas muss ich dich doch ansprechen können.“
Sie geht auf mich zu, umarmt mich von hinten, schließt ihre Arme um meinen Bauch und legt den Kopf auf meinen Rücken.
„Ich bin froh, dass ich dich gefunden habe. Meine Freunde haben mich immer Josie genannt.“
Ich zünde mir noch eine Zigarette an und reiche sie ihr. Dann noch eine für mich.
„Ich bin auch froh, dass ich dich gefunden habe, Josie.“

1 Kommentar:

  1. Einfach nur toll. Du hast die Situation so wunderschön beschrieben, daß mir ganz warm um's Herz wurde.
    Ich liebe diese Folge!

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